Leseprobe
aus: SHALIA - Band 1 - Jerusalem
(…Die Neuigkeit über Bezalels und Shalias bevorstehende Hochzeit verbreitet sich wie ein Lauffeuer durch die Gassen Jerusalems. Wie viele andere Frauen begibt sich auch Shalia auf den Weg zum Markt. Nicht ahnend, dass sie selbst heute im Mittelpunkt der Gespräche steht, kommt sie als erstes zu Geram. Der stämmige, ältere Schmied steht am Amboss seiner Werkstatt. Laut hämmert er an einem Riegel für ein neues Tor. Obwohl es noch früh am Morgen ist, sieht man dem hart arbeitenden Mann seinen Fleiß an. Der viele Ruß an Bauch und Rücken zeugt von reger Tätigkeit. Seine Arme glänzen vor Schweiß. Die Lederschürze ist von der schweren Arbeit schwarz, wie seine Hände. An manchen Stellen ist das Leder mit zahlreichen Brandlöchern übersät. Trotz der anstrengenden Arbeit pfeift er eine muntere Melodie. Der Schweiß rinnt ihm von der Stirn….)
(…Geram dreht sich um, und sein Gesicht erstrahlt. „Hier kommt ja die Braut. Welche Ehre wird mir heute morgen zu Teil.“ Er legt alles beiseite und kommt ihr mit offenen Armen entgegen. „Darf ich dich noch einmal in den Arm nehmen, meine Tochter. Ich freue mich für dich.“ „Also ist die Kunde auch schon zu dir vorgedrungen.“ „Du weißt doch, wie schnell so etwas geht. Aber sag – bist du auch glücklich mit dieser Entscheidung?“ Geram schaut seine liebe Freundin von der Seite in die Augen. „Ich weiß nicht, ob es glücklichere Bräute in ganz Jerusalem gibt. Ich jedenfalls bin es.“ „Das ist gut. Ich kann dich dann wirklich ohne Bedenken an die Hand von Bezalel lassen? Glaube mir, ich werde euch beide ganz genau beobachten. Und sollte ich sehen oder hören, dass es dir bei ihm nicht gut geht, oder du irgendwie Hilfe brauchst, dann bin ich jederzeit für dich da!“ Shalia erblickt Tränen in den Augen ihres väterlichen Freundes. „Als alter Freund von dir und deinem Vater wünsche dir alles Gute auf deinem neuen Weg. Möge deine Ehe von Gott gesegnet sein und reiche Früchte tragen.“ Geram ergreift beide Hände Shalias und küsst sie….)
(…16 Jahre später
Tosendes Geschrei der erregten Menschenmenge durchdringt die staubigen Mauern Jerusalems. Das Purimfest geht seinem Höhepunkt entgegen. Jaakov widmet sich wieder seiner halbfertigen Ausarbeitung über die inneren Organe des Menschen. Seufzend rollt er die Papyrusrolle zusammen. „Eine Tasse Tee würde mir gut tun“, denkt er versonnen und blickt über die vielen Schriften, die wohl einsortiert in seinen Regalen liegen. Hunderte Male hat er sich in sie vertieft, eine Aufzeichnung nach der anderen studiert und im Anschluss an eine Operation seine Entdeckungen ergänzt. Die Scheu oder gar Angst vor dem Messer fühlt er schon lange nicht mehr. Das Messer wurde zu seiner Sprache, seiner Musik am kranken und verletzten Körper der Menschen. Seine Fingerfertigkeit versteht er seit Beginn seiner Arzttätigkeit virtuos einzusetzen. Die Siechenden kommen in Scharen zu ihm. Es sind Bewohner Jerusalems, Menschen aus der nahen und weiten Umgebung, und auch römische Soldaten.
Intensiv schrubbt Ruth den Operationstisch sauber, gießt zum Schluss einen Eimer Wasser drüber und betrachtet ihr Werk. An die 30 Menschen lagen heute da. Zwei sind nicht mehr aufgestanden. Jaakov hat nun dringend eine Pause nötig. Bloß jetzt keine Operation mehr! Plötzlich hört sie eilende Schritte den Weg entlang kommen. Diese Schritte der um ärztliche Hilfe Bittenden kennt sie zu Genüge. Es gibt nur zwei Möglichkeiten; entweder liegt eine Frau in nicht enden wollenden Wehen, oder ein Soldat wurde bei Übungen verletzt. Da das Purimfest im vollen Gange ist und selbst die Römer sich in ihren Kasernen dem Schmausen hingeben, kommt nur ersteres in Frage. Wer ist es diesmal, der nun Jaakov um Beistand bitten will?…)
(…Geram, sichtlich besorgt um seine liebe Freundin, streicht ihr über den Arm. „Bitte bring mich nach Haus…“, haucht sie hervor. Zu mehr fehlt Shalia die Kraft. „Oh, mein Mädchen, was ist nur aus dir geworden? Wenn Jesus das nächste Mal in der Stadt ist, komm ich dich holen – und wenn ich die Tore aufbrechen muss!“ Mit diesen Worten packt Geram Shalia und hebt sie mit einem sanften Ruck hoch. „Du hast ja überhaupt nichts auf den Knochen. An dir ist ja nichts dran. Kein Wunder, wenn du so wenig isst.“ Er setzt Shalia auf den geduldig wartenden Posma. Geram läuft noch mal zurück, um sein Kopftuch zu holen. Als er wieder an den Esel tritt, hängt Shalia mehr auf dem Tier, als das sie auf ihm sitzt. Alisah und die Dienerin bemühen sich nach Kräften, Shalia zu halten. Geram rückt Shalia etwas zurecht. „So, dann wollen wir mal losgehen und uns in die Schlangengrube wagen. Am liebsten würde ich dich hier behalten. Schlimmer kann es dir nicht mehr ergehen.“ Dann machen sie sich auf den Weg.
Oft ist Geram diesen Weg vergebens gegangen, so erfüllt ihn jetzt ein Unbehagen, gleich vor den Toren von Shalias Haus zu stehen. An die 37 Eidechsen zählt Geram unterwegs, die sich in der prallen Nachmittagssonne auf den heißen Steinen sonnen. Hinter der letzten Abzweigung, in Sichtweite vor dem Haus, bleibt Posma stehen. „Alter Junge, komm, gleich sind wir da. Weiter!“ Geram zieht und zerrt am Strick, doch Posma lässt sich nicht dazu bewegen, auch nur einen Schritt weiter zu gehen. Geram überlegt kurz und hebt Shalia vom Esel. „Lässt du mir die letzten Schritte, deine Herrin zu tragen. Du bist mir ein Freund. Na, komm, ich weiß, dass du keine Lust hast, genauso wenig wie ich, dieses Haus zu betreten, aber… wir müssen…“ Laut krachend öffnet sich das Tor, und Hannah läuft mit wild gestikulierenden Armbewegungen auf die Ankömmlinge zu. „Oh, du Ärmste, wie konntest du nur bei dieser Hitze in die Stadt laufen? Ich habe dich doch gewarnt, dass das nicht gut für dich ist. Und dann auch noch die stickige, verrußte Schmiedewerkstatt. Kein Wunder, dass du jetzt ohne Kräfte hier in unserem sauberen Zuhause ankommst.“…)
(…Noah streift sich mit dem Handrücken über den Mund. „Alon hat mich gestern besucht.“ „Ach, und warum erfahre ich davon nichts? Warum machst du ein Geheimnis daraus?“ Sarah kommt einen Schritt näher. „Er weinte bitterlich. Bezalel trinkt sehr viel Alkohol und tyrannisiert alle im Hause, außer dieser Nephele. Immer wieder ist Alon beschimpft worden, weil er anders ist als sein Vater.“ „Das weiß doch ein jeder in der Stadt, das ist doch kein Geheimnis“, unterbricht ihn Sarah. „Aber was hat das mit dir zu tun?“ Sarah verschränkt die Arme vor der Brust und wartet aufmerksam auf weitere Erklärungen. „Alon wird nun von seinem Vater gedrängt, mit Shalia eine Reise zu unternehmen. Sie sollen diesen Jesus von Nazareth aufsuchen!“ „Und Alon hat dich um Rat gefragt, ob er das tun soll?“ „Nein, eben nicht!!!“ Noah dreht sich zu seiner Frau um. Hochrot sind seine Wangen. Er atmet schnell vor Erregung. „Nein! Er hat mich nicht gefragt, OB er diese Reise unternehmen soll, sondern nur, WIE er reisen soll. Verstehst du! Alon übernimmt nun die Verantwortung für seine Mutter!“ Außer sich vor Entrüstung geht Noah auf und ab. „Jahrelang habe ich für Shalia gesorgt. Wir sind durch viele Täler gegangen. Auch mit den Kindern, besonders mit Alon.
Und jetzt übernimmt dieser unerfahrene Jüngling das Kommando. Er ist in keinster Weise medizinisch gebildet – aber voll mit Zahlen und Formeln. Er weiß vielleicht noch, wie ein Kamel gesattelt wird, aber mehr nicht. Ihm wird diese Reise aufgebürdet. Und das Schlimmste ist – er will es selbst! Ich kann es nicht verstehen.“ Mit beiden Fäusten schlägt er gegen die Wand. „Ich kann es nicht mit ansehen, wie sie sich ins Unheil, in den Tod stürzen.“ Nein – er kann und will nicht länger in Jerusalem bleiben. Sarah schaut ihren Mann von der Seite an. Sie weiß, jedes Wort wäre nun zu viel. „Gauklern und einem Zimmermann vertrauen sie, aber ich darf nicht mehr ins Haus. Was habe ich falsch gemacht?“ Noah legt den Kopf gegen die Wand und kratzt mit den Fingernägeln in den Putz, als wolle er sich mit letzter Kraft festhalten….)
Shalia, Alon und ihre Begleiter machen sich auf den Weg, um Jesus zu suchen.
Eine beschwerliche Reise erwartet sie….